Die Gelegenheit

 

 

 

Auf dem belebten Bahnsteig der U-Bahn-Station ging eine Frau gemächlich auf und ab.

 

Ihrer Handtasche hatte sie soeben ein Buch entnommen und die Lesebrille aufgesetzt.

 

Sie freute sich auf ihren freien Tag.

 

 

 

Eine Bahn lief ein – es war noch nicht ihre.

 

Türen öffneten sich, Menschen strömten heraus, andere wollten möglichst schnell

 

gleichzeitig hinein – das übliche Gedränge...

 

 

 

„Geh' mir aus dem Weg, du Schlafmütze!“

 

Die Worte, die dieser Mann der dahinschlendernden Passantin zuwarf, trafen sie zwiefach

 

wie ein Bumerang, der zu ihr zurückkehrte.

 

Erschrocken und ungläubig blickte sie dem an ihr Vorübereilenden nach. Er hatte sie

 

einfach zur Seite geschoben. Sie blieb stehen, ihr schossen die widersprüchlichsten

 

Gedanken durch den Kopf.

 

Dieser Flegel! Ich – eine Schlafmütze? Und das ausgerechnet heute!

 

 

 

Doch schon, während die Wut in ihr hochstieg, setzten sich ihre Beine in Bewegung, wie von

 

selbst, schnell, schneller, schon war sie auf der Rolltreppe, immer bemüht, diesen unverschämten

 

Menschen, der jetzt die Rolltreppe verließ, nicht aus den Augen zu verlieren, denn das stand fest,

 

er hatte ein Ziel, das er möglichst bald erreichen wollte.

 

Ihre Gedanken beflügelten sie, milderten den bitteren Geschmack seiner verletzenden Äußerung.

 

War das die Gelegenheit, auf die sie solange gewartet hatte?

 

 

 

Sie musste ihm unbedingt nachgehen, nein, nicht gehen, sondern laufen, rennen, und das war

 

einfacher gedacht als getan, denn überall im Bereich des Ausgangs waren ihr nun Menschen im Weg. Aber sie würde nicht aufgeben, wusste, dass sie heute über Eines verfügte, über Zeit, sehr viel Zeit, die er offenbar nicht hatte.

 

Ihr, die so bewusst langsam in den Tag gestartet war, wuchsen ob dieses ungeheuerlichen Gedankens ungeahnte Kräfte zu.

 

Nichtsahnend eilte der so Verfolgte schnellen Schrittes weiter.

 

 

 

 

 

 

Monika Garn-Hennlich